Pressespiegel:

 

Frankfurter Rundschau vom 2.7.2002

THEATER ALS TEUFELSAUSTREIBUNG

Mehr als ein Provokateur: Christoph Schlingensief kämpft als Schamane gegen Deutschlands böse Geister

Von Stefan Keim

„Sie schützen das Böse“, sagt Christoph Schlingensief zu den Polizisten, die Jürgen W. Möllemanns Düsseldorfer Firma bewachen. „Ich bin beschmutzt worden.“ Sein Ton ist ruhig wie fast die gesamte Aktion. Zu Klavierakkorden wirft er Federn in die Luft und stinkende Fische in die Blumenbeete. Und erst als die israelische Fahne brennt, erhebt Schlingensief die Stimme: „Ich verfluche dich, Möllemann!“ Es ist kein Brüllen eines wilden Mannes, eher die kontrollierte Beschwörung eines Exorzisten. „Theater-Provokateur“ nennt dpa Christoph Schlingensief, und fast alle Medien schreiben und plappern diesen Begriff nach. Wer Schlingensief verstehen will, muss sich mit der Bedeutung von Magie, Schamanismus und katholischer Religion für seine Filme und Happenings auseinander setzen.

„Wenn ich Angst habe, zum Beispiel wenn ich ins Flugzeug steige, bete ich drei Vaterunser“, erzählt Schlingensief und meint kein Wort ironisch. „Ich habe diverse Schutzheilige, meine Patentante empfiehlt mir manchmal neue. Ich war zehn Jahre Messdiener und hab mich immer gefreut, wenn der Tabernakel aufging. Ich hab mir immer vorgestellt, sobald der Tabernakel zu ist, ist in seinem Inneren die Hölle los.“ Der Ort des Allerheiligsten, in dem das Heilige Brot, der Körper Christi, aufbewahrt wird, stellt für Christoph Schlingensief gleichzeitig das Gegenteil dar. Auf diesem Schwanken zwischen den Extremen baut sein Denken auf: „Mein Grundproblem ist mangelndes Vertrauen. Ich vertraue keinem Menschen und mir selbst auch nicht. Wenn ich sage, so und so ist es, könnte ich mich eine halbe Stunde später schon wieder killen. Das ist nicht der wahre Geist. Der wahre Geist ist ein Überbleibsel aus den Anfängen des Universums. Den kann man nicht mehr erreichen, aber es gibt Zustände, in denen ich ihm nahe komme. Vor Möllemanns Firma gab es ein Kraftfeld, das mich angeschaltet hat, das den Tabernakel in mir geöffnet hat. Ich lasse den Geist raus, der in mir wohnt.“

Ein Klavier, Fische, Federn und lebende Hühner, die Schlingensief wie in einem Voodoo-Ritual opfern will, gehören zu den Requisiten der „Aktion 18“. Er ist mehrmals in Afrika gewesen und war fasziniert von der Direktheit der Kulte. Begeistert erzählt Schlingensief von einem Dokumentarfilm über eine Sekte, die jedes Jahr die Uniformen der Soldaten anziehen, die ihre Vorfahren getötet haben. Am Ort des Kampfes rufen sie die Namen der Schlächter in den Wind, und gehen am nächsten Morgen wieder arbeiten – die klassische Katharsis. Ähnliches will Schlingensief für die deutsche Seele erreichen – und wirkt einen Moment lang fast wie ein Theater-Therapeut: „Wenn ich sehe, das jemand anfängt, einen Voodoo-Akt zu erzeugen, frage ich mich zuerst: Will er mir etwas sagen, das ich noch nicht sehe? Es kann ein schizophrener Anfall sein, es kann eine Hysterie sein. Diese böse Kraft kann ich wegnehmen. Es gibt Momente, in denen man Hysterie abwenden kann, indem man sie vorher spielt. Ein Psychologe kann einen Ausbruch verhindern, in dem er selbst Hysterie spielt.“

Als Schlingensief auf die Vereinigung mit dem Splatterfilm „Das deutsche Kettensägenmassaker“ – unvergesslicher Untertitel: „Sie kamen als Freunde und wurden zu Wurst“ – antwortete, als er in der Berliner Volksbühne anlässlich erstarkender Neonazis „Kühnen 94 - Bringt mir den Kopf von Adolf Hitler forderte“ schien der Spaß am Trash jede inhaltliche Auseinandersetzung fortzuwischen. Aber das war schon damals ein vorschneller Trugschluss. Immer suchte Schlingensief Bilder, die auch von härtesten Horrorfans nicht mehr genossen werden konnten. Er ließ eine kurz vorher im Publikum platzierte Puppe massakrieren und spielte einen Film, der die reale Tötung einer Katze in allen Details zeigte. Das wurde sogar Frank Castorf zu heiß, die Szene wurde nach der Premiere gestrichen. Schlingensief produziert auf Leinwand und Bühne wie an realen Orten Trash, der nichts mit der populär-oberflächlichen Definition des Begriffes zu tun hat. Es geht nicht darum, sich über billige Effekte und überagierende Schauspieler kaputtzulachen, sondern extreme Fantasien mit bewusst einfachen Mitteln darzustellen. Technische Perfektion, jeder Überwältigungsversuch durch elegante Ästhetik oder darstellerische Finessen, das oft so wunderschöne Spiel mit Verführung und Lüge, hat in Schlingensiefs Welt nichts zu suchen. Weil es von der Ehrlichkeit, dem Dreck, der Verzweiflung und der Lust fort führt, den eigenen Körper zum Objekt einer theatralen Teufelsaustreibung zu machen: „Wenn ich merke, es ist etwas zu eindeutig geworden, muss ich es in Grund und Boden rammen und mich kasteien. Dann muss ich mich auf der Bühne selbst vernichten und aufreißen.“

Christoph Schlingensief ist ein gänzlich unzynischer Mensch. Ein Borderliner vielleicht, der sich selbst als Patienten definiert und in seiner Lust an der Zerstörung wie Selbstzerstörung auch eine Krankheit vermutet. Mit vielen auf den ersten Blick abstrus anmutenden Äußerungen ist es ihm bitter ernst, anderes ist nur Spielmaterial: „Das Tötet-Rufen ist nicht wichtig, das ist ein Selbstzitat. Aber an diesem Ort einen Geist, aus der Wut heraus, zu bekämpfen, das ist wichtig. Mein Tabernakel hat sich geöffnet, als mir Friedman nach einer seiner Sendungen eine halbe Stunde lang erzählt hat, wieso er so tief verletzt ist. Das war ein Moment, in dem ich einen Mann, den ich sonst nur von der Mattscheibe kannte, plötzlich zutiefst verletzt gesehen habe. Da standen alle die Nackenhaare hoch, und wir hatten eine Gänsehaut. Da sprach wirklich etwas anderes.“

Das Einssein mit sich selbst, das Aufgehen in einem „Zeitfluss“, den richtigen Moment für den Exorzismus zu finden, um eine schmerzhafte Reinigung zuförderst für sich selbst aber auch stellvertretend für die deutsche Gesellschaft durchzuführen, das treibt Christoph Schlingensief in seine an archaische Bilder rührenden Happenings. Er zeigt auch, welche Symbolkraft eine Fahne immer noch besitzt, dass sie trotz aller aufklärerischer Rationalität immer noch mehr zu sein scheint als ein Spaßrequisit für Fußball-Weltmeisterschaften. Schlingensief gräbt obsessiv immer wieder das Dumpfe im Deutschen heraus, und das wahre Grauen seiner Aktionen ist die Tatsache, wie kurz unter der Oberfläche er fündig wird. Dabei verlässt er sich ganz auf die Intuition des Augenblicks, oder – wie Schlingensief sagen würde – auf den Geist in ihm: „Der Moment ist nicht geprobt. Es ist wie ein Spielen auf einem Instrument. Ich versuche die Misstöne einer Melodie, die ich höre, zu verstärken, so lange, bis wieder Stille einkehrt. Ich habe etwas zugelassen, dass in diesem Moment passiert ist. Mit Bildern, die mich selbst verletzen, die mir selbst Angst machen, aber ich musste es tun. Ich habe meine Bilder einem Bildermacher der übelsten Sorte entgegen gesetzt.“ Nach der ersten Performance war die für eine Woche angekündigte „Aktion 18“, der Straßenwahlkampf im Namen der FDP, schon vorbei. Nicht für Schlingensief, denn dem „deutschen Kennedy“ (Werbung des Festivals „Theater der Welt“) galten zwei Morddrohungen, die er ernst nimmt, während er diversen Ermittlungen ruhig entgegen sieht. Mit seiner Performance vor Möllemanns Firma ist er so zufrieden, wie es ein ständiger Selbstzerstörer sein kann: „Wenn ich mit einer fast hoffnungslosen Endgültigkeit umgehen muss, passiert ein magischer Moment. Da haben sich plötzlich die magischen Tore geöffnet, an einem Endpunkt.“



DPA vom 4.7.2002

Finanzen ein Dauerbrenner

Das Berliner Theatertreffen ist eigentlich immer ein zuverlässiger Gradmesser für "In" und "Out" in der deutschsprachigen Theaterszene. Doch bei seiner 39. Auflage im Mai zeigte die Festival-Auswahl zum Ärger einiger Intendanten, aber auch vieler Zuschauer nicht die Renner der Saison. Die Jurymitglieder hatten sich eher als Trend-Scouts betätigt und den experimentellen Entwicklungen des Schauspiels nachgespürt. Doch so spannend die Entdeckung jüngerer Regisseure war, man vermisste das "Theater der Sinneslust", wie es Claus Peymann nannte.

Nicht berücksichtigt worden war etwa einer der ganz großen Erfolge der Saison: Andrea Breths gefeierte Inszenierung von Schillers "Maria Stuart" am Wiener Burgtheater. Unberücksichtigt auch Michael Thalheimers alles andere als konventionelle Inszenierung von Lessings "Emilia Galotti" am Deutschen Theater Berlin. Publikumsliebling am Schauspielhaus Bochum war Matthias Hartmanns vom Theatertreffen ebenfalls ignorierte "Warten auf Godot"-Inszenierung mit TV-Entertainer Harald Schmidt.

Turbulent ging es am Schauspielhaus Zürich zu. Der eigenwillige Spielplan von Intendant Christoph Marthaler führte zu scharfer Kritik und Publikumsschwund, der Bau einer neuer Spielstätte zu finanziellen Problemen. In einer Volksabstimmung billigte die Zürcher Bevölkerung nur mit knapper Mehrheit höhere Subventionen. Die Bühne ist gerettet, doch Marthaler muss in seiner anstehenden dritten Spielzeit drastisch sparen.

Als Solitäre in der Theaterszene sammelten Frank Castorf und Christoph Schlingensief weiter ihre Fans um sich. Castorf, Intendant der Berliner Volksbühne, strapaziert und fasziniert sein Publikum immer noch mit mehr als fünf Stunden langen Inszenierungen. Auch Peymann, Intendant des Berliner Ensembles, kämpft weiter um eine sichere finanzielle Zukunft seines Hauses, von der er seinen weiteren Verbleib in der Hauptstadt abhängig macht.

Zufrieden ist dagegen Dieter Dorn mit seiner ersten Saison als Intendant des Bayerischen Staatsschauspiels in München. Geglückt ist auch Frank Baumbauers Start an den Münchner Kammerspielen. Schlechte Nachrichten kommen dagegen aus Frankfurt am Main. Während Elisabeth Schweeger, neue Intendantin am Schauspiel, immer noch mit der Akzeptanz beim Publikum kämpft, droht dem TAT (Theater am Turm) das Ende. Aus Spargründen soll die traditionsreiche Experimentierbühne zum Ende der Spielzeit 2003/04 dicht machen. Auch in Hamburg gibt es Ärger ums Geld. Tom Stromberg, Intendant des Deutschen Schauspielhauses, prophezeite dem Senat der Hansestadt einen "heißen Herbst".

ELKE VOGEL


DPA vom 30.6.2002

Castorf bleibt an der Volksbühne
Möllemann will Theater verklagen


Frank Castorf bleibt bis 2007 Intendant der Berliner Volksbühne. Castorf und der Berliner Kultursenator Thomas Flierl (PDS) haben sich auf einen entsprechenden neuen Vertrag verständigt.

Castorf ist seit zehn Jahren Intendant der Volksbühne am Rosa- Luxemburg-Platz, sein Vertrag wäre Ende Juli ausgelaufen. Er hatte immer wieder eine bessere finanzielle Ausstattung seiner Bühne als Voraussetzung für sein Bleiben angemahnt. „Ich bin froh, dass Castorf in Berlin bleibt“, betonte Flierl. „Die Volksbühne ist zweifellos das erfolgreichste Theater der Stadt, hier sind Ost und West kulturell vereint, trifft sich ein junges Publikum, etablierte sich ein offenes Milieu.“

Der FPD-Politiker Jürgen Möllemann hat unterdessen Klagen gegen die Volksbühne angedroht, nachdem Regisseur Christoph Schlingensief beim Bonner Festival „Theater der Welt“ „tötet Möllemann“ gerufen hatte. Das Theater sieht in der Klage eine Attacke auf die Kunstfreiheit. dpa


Kölner Stadtanzeiger vom 1.Juli 2002

Der Auftritt von Christoph Schlingensief im Kölner Schauspielhaus war der Ersatz für die „Aktion 18“.


„Schlingensief kommt!!!“ hatte die Programmänderung zu den von Diedrich Diederichsen betreuten Thementagen „Die Kraft der Negation“ versprochen. Und siehe, er kam - als Ersatz für seine abgesagte „Aktion 18“ in Köln. Nach einer Rheinland-Tour in einem „Möllemobil“ hatte er mit einer „Bücherverbrennung" auf dem Neumarkt „höhepunkten“ wollen. Da steht er nun im Schauspielhaus, Schlingensief, die fleischgewordene Provokation, und wippt wie ein kleiner Schuljunge von einem Bein aufs andere.

Schlingensief gezähmt, eingeschüchtert von den FDP-Drohungen mit Gericht und Staatsschutz? Diederichsen, der von Schlingensief Neues über Negationskunst erfahren wollte, redet wie sein Gast weitschweifig und wirr. Vom „Kapitalismus als Gelee-Fisch“ ist da die Rede und vom „Problem des simulierten Etwas in einem ständig blockierten Zeitfluss“. Kein Wort indes über die Absage der Kölner Aktion. Dafür, immerhin, einiges Erhellende über Schlingensiefs Interpretation der Person des Jürgen W. Möllemann, vor dessen Düsseldorfer Firma der Aktionskünstler eine Scharon-Puppe verbrannt hatte.

Der FDP-Politiker simuliere mit seinen Bemerkungen einen Geist, der nicht sein eigener sei: „Beim Einbiegen in die Straße von Möllemanns Firma sagt mein Geist: ,Da spukt's doch!'“ Politik wie die von Möllemann simuliere Problemlösung, ohne ihr wahres Gesicht zu zeigen. Doch Schlingensief ist kein Geisteraustreiber ohne Selbstkritik, denn er empfinde sich nicht nur als Opfer einer „Beschmutzung“, sondern auch als Teil einer „Krankheit“, die sich in Möllemanns „Geschäftsgebaren“ offenbare. Die Geister, die er rief, wird er nicht mehr los? Man kann dem Provokateur alles mögliche vorwerfen, aber nicht: dass er unpolitisch sei. Seine Aktionen schreien nicht ins Leere, sondern erwarten Antworten - und genügen dadurch Diederichsens Forderung, dass Kunst falsche soziale Entwicklungen konkret negieren müsse.



FAZ-NET

Was machte Schlingensief mit dem Huhn?

26. Juni 2002 "Die Hühner sind nur geliehen", titelt die "Frankfurter Rundschau". "Der Standard" verweist in einer Zwischenüberschrift auf den psychischen Zustand des Federviehs: "Huhn, geschockt". "Eine veritable Opferung im Sinne der Wiener Aktionisten" sei allerdings nicht geplant gewesen, beruhigen die Wiener und die Frankfurter Tageszeitung einstimmig ihre Leser.
Nur der "Bild"-Zeitung fällt nicht viel ein. Zwar widmet sie dem "neuen Wirbel um Jürgen Möllemann" einen Platz auf der ersten Seite, titelt aber schlicht "FDP-Vize verklagt Skandal-Regisseur". Der war am Sonntagabend im Duisburger Stadttheater im Rahmen seiner "Aktion 18" aufgetreten und soll im Lauf des Abends nicht nur, wie die "Frankfurter Rundschau" zusammenfasst, ein Bild Möllemanns mit einer Bohrmaschine traktiert haben, um es sich anschließend mit der Bemerkung "Ich sehe jetzt aus den Augen eines Antisemiten" vor das Gesicht zu halten, sondern noch dazu gerufen haben: "Tötet Jürgen Möllemann".

Aufdringlicher Schlingensief, verängstigter Vesper
Tags darauf habe der Theaterregisseur seine Performance vor dem Sitz der Düsseldorfer Firma Wirtschafts- und Exportberatung Jürgen W. Möllemann fortgesetzt. Der Firmeninhaber konterte, indem er die Presse am Dienstag in den Düsseldorfer Landtag lud. Er fühle sich in seinen Rechten verletzt, zitiert die "Tageszeitung" den Politiker. "Was daraus wird, wird sich zeigen." Die Beteiligung des Grünen-Bundestagsabgeordneten Cem Özdemir am Duisburger Auftritt soll Möllemann "bemerkenswert" genannt haben. Özedmir "habe die Entgleisungen 'völlig ohne jedes demokratische und menschliche Gewissen' hingenommen", zitiert die Zeitung Möllemann.
Einen anderen Grünen immerhin konnten die Vorwürfe Möllemanns beeindrucken: Kulturminister Michael Vesper antwortete auf den Hinweis des FDP-Politikers, die Landesregierung habe die Aktion Schlingensiefs im Rahmen des mit 750.000 Euro geförderten Festivals "Theater der Welt" mitfinanziert. Die Förderentscheidung sei gefallen, bevor die Teilnahme Schlingensiefs bekannt geworden sei. Der Regisseur "habe sich erst kurz vor Toresschluss aufgedrängt". Weil Schlingensief ursprünglich geplant habe, Bücher zu verbrennen, habe sich Vesper "frühzeitig von der Teilnahme Schlingensiefs distanziert".

Der gehört verhaftet
Die "Märkische Allgemeine" meldet sich aus der Düsseldorfer Achenbachstraße. Dass Schlingensief, die Polizeibeamten hinterdrein, durch eine Blumenrabatte im Vorgarten jenes Mehrfamilienhauses zog, in dem Jürgen Möllemann seine Beratungsfirma betreibt, erfahren wir nur hier.
Auch in der Dokumentation der Stimmen nur mittelbar Betroffener leistet die Zeitung Vorbildliches: "Dafür gehört der verhaftet" sollen die Anwohner einmütig befunden haben, als Schlingensief das nämliche Huhn aus dem "Möllemobil" geholt hat und vorgab, durch dessen Opfer das Böse selbst aus dem nämlichen Mehrfamilienhaus austreiben zu wollen.
Was geschah mit dem Huhn?
Und als schließlich die Federn, Patronenhülsen und das Waschpulver verschüttet oder ausgeworfen waren und allein das Huhn, zwischenzeitig auf einem Klavier zur Ruhe gekommen, in der so zugerichteten Achenbachstraße zurückgeblieben sein soll, regten sich die Nachbarn nach Darstellung der "Märkischen Allgemeinen" darüber auf, "dat der dat nich selber wieder wech machen muss".
Nach Darstellung der "Süddeutschen Zeitung" hat eine Anwohnerin im weiteren Verlauf "das ausgesetzte Huhn in ihre Obhut genommen". Die "Frankfurter Rundschau" allerdings berichtet, eine "Schlingensief-Helferin" habe sich mit den eingangs zitierten Worten "die Hühner sind nur geliehen, die müssen wir zurückgeben" einer "Passantin in den Weg gestellt, die das Huhn vor weiterem Schaden bewahren wollte".

Text: @kue


GLADBACHER ZEITUNG

FDP RÄUMUNG

Mönchengladbach - Geschäftsstelle geräumt

Mönchengladbach. Auf Grund einer landesweiten Warnung der Polizei an alle FDP-Geschäftsstellen, räumten auch die Gladbacher Liberalen gestern ihre Räume an der Wilhelm-Strauß-Straße. Hintergrund sei, nach Auskunft der Gladbacher FDP, Anschlags-Drohungen des Regisseurs Christoph Schlingensief.
Der wolle mit provokativen Aktionen gegen den Landesvorsitzenden Jürgen Möllemann protestieren. "Wir haben von mit Blut gefüllten Plastikbeuteln gehört, die auf FDP-Mitglieder geworfen werden sollen", sagte der Leiter der Kreisgeschäftsstelle Joachim Stockschläger.
Man rechne zwar nicht mit gezielten Aktionen in Gladbach, wolle die Mitglieder jedoch keinem Risiko aussetzen. "Darum haben wir unsere Räume am Montag geschlossen", so Stockschläger. Auch die Mönchengladbacher Polizei rechnet nicht mit einem Anschlag, kündigte jedoch an, verstärkt Streife zu fahren.


FAZ 26.6.2002
Feuilleton Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.06.2002, Nr. 145, S. 47

Mitbringsel für Möllemann
Von Schlingensief, dem Flammenkünstler: Aktion in Duisburg

Ein geläufiges Deutungsmuster erfaßt Personen wie Jürgen Möllemann und Christoph Schlingensief übers Rasterbild der Medienfigur. Als einzige Seinsform der Medienfigur gilt umtriebiges Erscheinen - bei Möllemann als Fallschirmlandung, bei Schlingensief als Aktion. Beides kann fast überall stattfinden, auf Sommerfesten, am Wolfgangsee oder in Fernsehshows. Weil Medienfiguren überall auftreten, sitzen sie immer im Nirgendwo. Und weil ihr Vorhandensein ganz auf Aufmerksamkeit beruht, verdienen sie keinerlei Beachtung.

Aus der Bibelhermeneutik stammt die Formel vom Sitz im Leben. Ihr Zweck bestand darin, der Schrift einen szenischen Hintergrund zu geben, etwa das Exil als Rahmen des achtzigsten Psalms: "Bitte für Israel, den Weinstock Gottes". Oft wurden Jürgen Möllemanns Äußerungen über den Staat Israel und die Vertreter der Juden in Deutschland als Teile einer medialen Rückkopplung betrachtet: Als erfahrener Aufmerksamkeitsökonom schlage Möllemann lediglich Kapital aus einem Skandal. Doch auch Möllemanns Sprüche haben ihre eigentümliche Kulisse. Und die ist nicht identisch mit den Pappstellwänden in Fernsehstudios oder auf Pressekonferenzen. Ausgerechnet Christoph Schlingensief erfüllte zum Auftakt seines Straßenwahlkampfes "Aktion 18" beim Festival "Theater der Welt" die historisch-kritische Aufgabe, den Firmensitz von Möllemanns Unternehmen WebTec einzublenden und Blicke und Objektive damit auf eine Ökonomie zu lenken, die abseits aller Aufmerksamkeit liegt.

Denn WebTec bietet keine Internetlösungen an, sondern Wirtschafts- und Exportberatung. Ein beträchtlicher Teil der Geschäftsbeziehungen führt in den Nahen Osten. Schließlich stammt das 1993 gegründete Unternehmen aus ebenjenem Jahr, in welchem der Wirtschaftsminister Möllemann zurücktrat - und der hatte nicht erst in der Spürpanzer-Affäre sein Gespür für arabische Absatzmärkte bewiesen. Daß Schlingensiefs Auftritt die unscheinbare Düsseldorfer Achenbachstraße selbst in einen Medienbrennpunkt verwandelte, hebt ihre Bedeutung als unterbelichtete Grundierung nicht auf. Möllemanns Firma sitzt in einer netten Wohngegend mit nahe gelegenem Park, in Fußweite eine beschauliche Infrastruktur aus Hundesalons, Reisebüros und Hörakustik. Die Nummer 56 bezeichnet ein gewöhnliches fünfstöckiges Mietshaus mit khakifarbener Fassade. Links neben der Eingangstür hängt das Schild eines Kosmetikstudios, rechts und leicht abseits weist eine schicke Plexiglasplatte auf WebTec und "Jürgen W. Möllemann" hin.

An der Stahltüre neben dem Haupteingang klebt ein mit bunten Filzstiften gleichmäßig beschriebener Zettel: "Wegen Betriebsausflug zum Schlingensief-Puppentheater heute geschlossen!" Der säuerliche Humor legt nahe, daß dies der einzige Kommentar des abwesenden Firmeninhabers ist. Ansonsten wartet ein gepflegter Vorgarten mit gummiartigem Blattwerk und Blumen, zu denen der Begriff der Dahlie passen würde. In der Nische vor den Mülltonnen verschränkt ein unerschütterlicher Wachtmeister die Hände hinter dem Rücken. Seine Kollegen von der Presseabteilung, erkennbar an Jeansweste oder Anzug, geben Medienvertretern Auskunft über das zu Erwartende: "Das ist keine Köpenickiade, das ist eine Eulenspiegelei."

Ein Protestierer in Leinenhose und Hemd mit dunkelrotem Gemüsemuster hält ein Kartonschild hoch: "Ist Schlingensief verrückt? Nein! Faschistoid? Ja!" Seit Jahrzehnten mietet der Düsseldorfer Plakatwände und klagt über Ärger mit der Jüdischen Gemeinde - dabei habe er doch auf seinem jüngsten Protestplakat zum Nahostkonflikt nicht mehr als zwei von sechs Seiten des Davidsterns durch Maschinengewehre ersetzt. Dann fährt ein weißer Kleinlaster vor, gefolgt von einem gelben Oldtimerbus. Schlingensief wächst zwischen den beiden Fahrzeugen aus dem Boden, ein Highlander mit Lederstiefeln und wehendem Mantel. Im Bus leiert barocke Bläsermusik, ein Opa mit gelber Kappe feuert durch eine Flüstertüte auf den Euro. Schlingensief lädt die Requisiten aus dem Laster - Klavier, Holzgalgen, Daunenfedern, Teer, Strohpuppe, lebendes Huhn, Patronenhülsen, Waschpulver, Walserbuch. Nur das übliche performative Puzzle?

Schlingensief schüttet "Dalli" ins Klavier, greift als Beethoven düsterschräg in die Tasten, setzt das Huhn auf Walsers Roman, verwandelt den Vorgarten samt Dahlien in ein Schlachtfeld und schleudert Fische in Richtung des Firmeneingangs. Doch die Aktion ist keine plumpe Attacke auf Möllemanns Adresse: Die Zeichensammlung aus den Feldern von Schuld und Reinwaschung, deutscher Kultur und Kriegsgerät deutet auf gefährlichere Zusammenhänge hin. Als Schlingensief die Strohpuppe mit Tesafilm an den Galgen klebt und das Portrait von Ariel Scharon anstelle des allseits erwarteten Möllemanngesichts an ihren Kopf heftet, schreitet nicht nur die Polizei ein - der Umschlagpunkt macht auch deutlich, daß Schlingensief Möllemanns Verbalattacken gleichsam dramatisch nachstellt und dabei in einer gruseligen Doppelrolle auftritt.

Eine brennende Flagge in Israels Farben markiert den Höhepunkt solch inszenierter Schizophrenie. "Das geht zu weit", ruft der Einsatzleiter. "Feuer! Feuer!" schreit seinerseits Schlingensief. Der Protestierer reckt seinen Faschismusvorwurf noch höher, Schlingensief ruft empört zurück: "Und das werfen Sie mir vor?" In deutlichen Abstand zu seinem Zerstörungswerk geflohen, grenzt sich der Akteur in aller Schärfe von demselben ab: "Möllemann ist daran schuld, Israel wird mit Füßen getreten!" Die Polizei ordnet die Verantwortlichkeiten anders zu und nimmt im Anschluß Schlingensiefs Personalien auf. Auch die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft macht den Künstler selbst für jene Nazisymbolik verantwortlich, die er auf einer Internetseite mit FDP-Bildern kombiniert: Der übliche Streit über die Freiheit der Kunst steht an.

Doch ein Leitmotiv, das Schlingensief mit aller Inbrunst in Richtung von Möllemanns Firma brüllt, trägt womöglich mehr Bedeutung als alle Plädoyers seiner Anwälte: "Ich bin verletzt!" Viel hängt von der Frage ab, ob man diesem einfachen Satz einen Sitz im Leben einräumt.

ANDREAS ROSENFELDER


Sueddeutsche Zeitung 25.Juni2002

Der Hahn ist tot

Christoph Schlingensief startet im Theater Duisburg seine „Aktion 18“ gegen Möllemann

Duisburg – Es ist 20.15 Uhr, die Tagesschau geht gerade zu Ende, als im Theater Duisburg der Gong ertönt, als würde nun eine reguläre Abonnement-Vorstellung beginnen. Die Tonanlage ist schon eingeschaltet, wummert leise und unterlegt mit ihrem Geräusch die Erwartungshaltung. Es wird dunkel, der rote Vorhang bewegt sich und eine junge farbige Frau in einem Etwas aus weiß-rosa Tüll rezitiert einen Text, in dem vom „Egoismus des Leidens“ die Rede ist und davon, die Wunden aufzureißen und den Schmerz zu wecken. Zeit zum Nachdenken. Und man denkt sich zwei Abende zurück, als im Düsseldorfer Schauspielhaus Frank Castorf gastierte mit seiner grandiosen Dostojewski-Bearbeitung von „Erniedrigte und Beleidigte“. Heute Abend in Duisburg aber, beim Festival „Theater der Welt“, ist Christoph Schlingensief dran – auch er könnte eine Dostojewski-Figur sein: Fürst Myschkin, „Der Idiot“, ein Mann Gottes.

Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Nach zehn Minuten zitiert Schlingensief Jesus Christus – die sieben letzten Worte des Erlösers am Kreuz. Die Spur des Heiligen in der Kunst ist ein alter Pfad, der selten als Mittelweg verläuft. „Blut Schweiss Tränen“ drohen Tafeln auf der Showbühne an. Der Auftakt der „Aktion 18“, den der Junge aus Oberhausen im Rahmen seines „Quiz 3000“ hier „in einer Gegend, die die Sozialdemokratie vergessen hat“, darbietet, ist auch ein Passionsspiel. Wer weiß, ob von Bach oder aus Oberammergau. Nach zehn Minuten auch klinkt er zum ersten Mal aus, wie Jesus im Tempel, der die Händler aus dem Haus des Vaters vertrieb, und trampelt auf einem Konterfei von Möllemann herum, dessen Porträt an der Rampe neben dem blutbesudelten von Robert Steinhäuser angelehnt steht. Jesus war ja eben nicht nur der friedfertige Verkünder der Bergpredigt.

An diesem Abend wird Christoph Schlingensief sagen, was er vor Jahren gegen Helmut Kohl forderte: „Tötet ihn“. Er wird es in einem Kunstraum sagen, als Happening, bei dem es für einen Moment auch so aussieht, als würde er einen Hahn mit einer Axt erschlagen haben. Voodoo-Rituale, Teeren und Federn und anderer Abwehrzauber: Das ist die erregte heißkalte Antwort des politischen Aktions-Künstlers auf eine politische Strategie, die für ihn – wie für viele – finstere irrationale Regungen befördert und mit ihnen kalkuliert.

„Tut doch was!“

Deshalb auch umhalst er das Bildnis des Amokläufers von Erfurt – wie Nietzsche in Turin ein Pferd – und nennt ihn „Freund“. Schlingensief ist ein Fanatiker darin, sich gegen Mehrheiten zu stellen; einer, der zugleich weiß, dass „Minderheiten Minderheiten beschmutzen, um sich dadurch zu erhöhen“. Nur durch das Aussprechen des Unaussprechlichen, nur aus dem Provozieren des Missverständlichen erhofft er sich – noch – kathartische Wirkung. Manchmal müsste man ihn vor sich selbst in Schutz nehmen, manchmal will man ihn trösten.

Aber bitte nicht so wie der Grünen-Politiker Cem Özdemir, der gekommen ist und in öde salbungsvollen, harmonie-bewussten, matten Formeln den Diskurs pflegt und ansonsten so peinlich herumsteht, dass Schlingensief höhnt: „Da hinten lacht einer“. Angesichts der grünen correctness schreit er „Tut doch was“, rastet aus und zieht seine Nummer mit dem Hahn durch. Er will Blut sehen, um das Leben zu spüren.

In grauem Tweed und gedeckter Krawatte scheint Schlingensief nur so smart, wie Kerner gern wäre, so seifig, wie Heck immer war. Ein verspäteter Lenny Bruce, ein „King of Comedy“ wie Jerry Lewis, der von Robert de Niro entführt wird, ein Trash-Sammler, Müllbeseitiger, Demagoge. Und nur noch ein Schatten und Echo seiner selbst. Er braucht die Bühne, weil er nur dort übers Kuckucksnest fliegen kann. Unberechenbar, undurchschaubar. Fast eine tragische Figur. Abgründig, unglücklich, mechanisch wie Fellinis monströser müder Casanova. Wäre Helmut Dietl ein Kerl, hätte er diesen Schlingensief für die „Late Show“ engagiert.

Hat sein Scheitern noch eine Chance? Die Linie ist haarfein, auf der dieser Borderliner balanciert. Man weiß nie, wann er sie überschreitet, ob er je die Medien-Manipulation und Regie-Macht abgibt, ob er selbst noch glaubt, dass gut ist, was sein theatrales, reales Handeln vermittelt. Wohl behält er die Kontrolle über sein System: über sich selbst, den Co-Moderator Horst, über die Elvis-Imitation Werner Brecht, seine Mitwirkenden, seinen Zirkus, die mit Fanfaren begrüßte Freak-Show, seine zehn Assistentinnen, bei denen er den Grabscher markiert. Er spielt ein Ratespiel, bei dem die Kandidaten „Ordnungsfragen“ beantworten, die die FDP betreffen: antisemitische Äußerungen, dubiose Geschäfte des Herrn Möllemann mit arabischen Ländern und „Schurkenstaaten“, Verbindungen im Zwielicht der Nazi-Vergangenheit.

Qualen verursacht, dass Schlingensiefs moralisch rigider Impetus – unauflöslich – zugleich auch Spielform ist, reflektierter, ironisch gebrochener Gestus: wenn er die israelische Flagge mit dem Davidstern entrollt, Solidarität bekundet, Westerwelles Betroffenheit in Yad Vaschem parodiert, wenn er mit einem halb verschluckten Nebensatz Schlesien Deutschland zuschlägt: „wenn Stoiber siegt“, wenn er Pim Fortuyn salutiert. In die Objekte seines Hasses hinein spiegelt und montiert dieses Multiplikations-Talent immer auch raffiniert gesellschaftliche Reaktionen auf eben diese Figuren.

Gespenstische Vorstellung

Austreibung der Geister. Nein, es ist kein heiterer Abend. Schlingensief weiß, dass er nur verlieren kann. Dass sein Mobilisieren mittels extremster Maßnahmen im Frei- und Leerraum des Polit-Entertainments verbleibt: Gott sei dank, vermutlich. Diese Resignation bleibt spürbar bei den wütenden Kampfansagen, dem messianischen Trieb, dem tobenden Gebaren. Dann gleicht er Peter Finch als Howard Beale in Sidney Lumets Film „Network“, wenn der Anchor- Man in seiner TV-Show das Publikum auffordert, zu skandieren: „Ich mach das nicht mehr länger mit. Ihr könnt mich alle am Arsch lecken.“ All das macht diese „Vorstellung“ so maßlos traurig, gespenstisch, verzweifelt munter wie einen Ball der einsamen Herzen. Am Ende ist er ganz verhetzt, verschwitzt, blutverklebt.

So sehen Helden im Hollywood-Action-Kino nach erledigter Arbeit aus, weshalb eine düstere Musik-Collage erklingt, unter anderem aus „Alien“ und Lynchs „Wild at Heart“, denn es kann kein Happy End geben. Als der Vorhang fällt, ist es Zeit für Sabine Christiansen. Der Dialog geht weiter. Schlingensief geht ab.

ANDREAS WILINK


DIE WELT, 29.06.02

"Politbarometer": FDP stürzt in der Wählergunst ab
Antisemitismus-Streit sorgt für Stimmungsumschwung.
SPD ist Gewinner der Woche. Schwarz-Gelb verliert Mehrheit

Berlin - Knapp drei Monate vor der Bundestagswahl am 22. September zeichnet sich ein Umschwung in der Wählergunst ab. Nach dem neuesten "Politbarometer" ist die FDP Verlierer der Woche und bricht in der politischen Stimmung von zwölf auf acht Prozent ein. Grund ist offenbar der Antisemitismus-Streit, den FDP-Vize Jürgen Möllemann mit seiner Kritik am Zentralrat der Juden ausgelöst hat. "Das ist eindeutig die Quittung für Möllemanns Eskapaden", sagte FDP-Präsidiumsmitglied Sabine Leutheusser-Schnarren-berger der WELT. "Das hat die Menschen in der bürgerlichen Mitte abgestoßen."

Von der FDP-Misere profitieren die Sozialdemokraten. Im Stimmungsbarometer erreicht die SPD jetzt 38 Prozent, fünf Prozentpunkte mehr als vor zwei Wochen. CDU/CSU bekommen unverändert 40 Prozent, die Grünen bleiben bei acht Prozent, die PDS verliert einen Punkt und rutscht mit vier Prozent unter die Fünf-Prozent-Marke.

Auch in der so genannten Sonntagsfrage bestätigen die Meinungsforscher den Aufwärtstrend der SPD. Wenn jetzt Bundestagswahl wäre, kämen die Sozialdemokraten auf 36 Prozent (plus eins), die Grünen auf sieben (unverändert), die CDU/CSU auf 39 (unverändert), die FDP auf neun (minus eins) und die PDS auf fünf Prozent (unverändert). Damit würde keines der beiden politischen Lager zurzeit über eine Mehrheit im Bundestag verfügen. DW


SPIEGEL ONLINE, 25.06.02

Reaktionen auf Schlingensief
Möllemann tobt, Staatsanwälte ermitteln

Mit seiner "Aktion 18" hat es Christoph Schlingensief tatsächlich geschafft, Jürgen Möllemann aus der Reserve zu locken und auf die Palme zu bringen. Der FDP-Politiker fühlt sich in seinen Rechten verletzt und fordert ein Verfahren gegen den Theater-Provokateur.

Düsseldorf - Ein Medienspektakel jagt das nächste: Zwar haben sich die Wogen der unsäglichen Antisemitismusdebatte vorerst geglättet, doch muss sich Jürgen Möllemann noch immer mit den Folgen der Affäre herumplagen. Der nordrhein-westfälische FDP-Chef meldete sich einen Tag nach Schlingensiefs provokanter, auf die FDP abzielende Theater-Farce "Aktion 18" zu Wort und warf dem Regisseur vor, zu einer Straftat aufgerufen zu haben. Mit seiner am Sonntagabend im Duisburger Theater getätigten Aufforderung "Tötet Möllemann" habe Schlingensief die verfassungsrechtliche Grenze der Kunstfreiheit weit überschritten, sagte Möllemann am Dienstag in Düsseldorf. Die Staatsanwaltschaft müsse nun wegen eines Offizialdelikts gegen Schlingensief ermitteln, forderte der Politiker.
Schlingensief habe am Sonntag bei seiner "Aktion 18" im Rahmen des Festivals "Theater der Welt" auf Möllemanns Foto herumgetrampelt und in einem Tobsuchtsanfall "Tötet Möllemann" geschrien, sagte der FDP-Vize. Als bemerkenswert bezeichnete es Möllemann außerdem, dass der Bundestagsabgeordnete der Grünen, Cem Özdemir, in dem Theaterstück als Assistent Schlingensiefs mitgespielt habe. Özdemir habe die Entgleisungen "völlig ohne jedes demokratische und menschliche Gewissen" hingenommen.

Möllemann zog einen Vergleich zum Fall des Islamisten Metin Kaplan. Der "Kalif von Köln" war wegen Aufrufs zum Mord zu vier Jahren Haft verurteilt worden. "Unser demokratisches System duldet solche Aufforderungen nicht", sagte er. Auf die Frage, ob er sich bedroht fühle, antwortete Möllemann: "Ich fühle mich in meinen Rechten verletzt. Was daraus wird, wird sich zeigen." Möllemann erinnerte daran, dass Schlingensief 1997 bei der Documenta in Kassel nach dem Ausruf "Tötet Kohl" auf offener Bühne von der Polizei festgenommen worden sei.
Des Rundumschlags nicht genug: Der FDP-Vize warf der nordrhein-westfälischen Landesregierung vor, die Aktion Schlingensiefs mitfinanziert zu haben. Das Kulturministerium habe das Festival "Theater der Welt" mit rund 750.000 Euro gefördert. Kulturminister Michael Vesper (Die Grünen) entgegnete jedoch ebenfalls am Dienstag, die Förderentscheidung sei gefallen, als von einer Beteiligung Schlingensiefs noch gar nicht die Rede gewesen sei. Schlingensief habe sich erst kurz vor Toresschluss aufgedrängt und sei von der Festivalleistung engagiert worden. Er selbst habe sich frühzeitig von der Teilnahme Schlingensiefs wegen einer geplanten Bücherverbrennung distanziert, sagte Vesper.

Die Staatsanwaltschaft Duisburg habe bereits Vorermittlungen wegen des Verdachts möglicher Straftaten eingeleitet, sagte ein Sprecher am Dienstag. Die Polizei sei gebeten worden, ihre Erkenntnisse über den Schlingensiefschen Theaterabend mitzuteilen.
Die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft ermittelt unterdessen gegen Schlingensief wegen des Verdachts der Volksverhetzung und anderer möglicher Straftaten. Bei dem Internet-Auftritt von Schlingensiefs "Aktion 18" habe sich der Anfangsverdacht auf Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organe erhärtet, sagte der Sprecher der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft, Johannes Mocken.

Die Website, auf der der Regisseur unter anderem die Aufforderung "Werden Sie Selbstmordattentäter" verbreitete, sei eine "absolute Unverschämtheit", sagte Mocken. Auf Grund des Erscheinungsortes der Internetsite in Schlingensiefs Wohnort Berlin, sei allerdings die dortige Staatsanwaltschaft zuständig.
Aber auch Videoaufzeichnungen der Polizei werden von den Düsseldorfer Staatsanwälten "haargenau geprüft", sagte Mocken. In der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt hatte Schlingensief im Rahmen seiner "Aktion 18" am Montag gegen Möllemanns Äußerungen vor dessen Firma Webtech demonstriert. Nach bisheriger Kenntnis lägen jedoch keine verfolgbaren Straftaten wegen Beleidigung oder Verunglimpfung vor, so Mocken.
Schlingensiefs Auftritt, bei dem er einen Galgen mit Strohpuppe, ein Konterfei des israelischen Staatspräsidenten Ariel Sharon sowie eine israelische Flagge verbrannte, scheine auf Grund des Rechts auf Meinungsfreiheit gedeckt.
Schlingensief selbst gab sich am Dienstag zunächst vorsichtig und defensiv. Er habe in Duisburg keinesfalls "Tötet Möllemann" gerufen, sagte er gegenüber der dpa. "Da ist etwas gehört worden, was gar nicht da war", sagte der Theatermacher und verwies auf eine dramaturgische Pause zwischen den Wörtern. "Was ich auf der Bühne mache, steht im Kunstkontext." Den Vorwurf, sein Webauftritt sei volksverhetzend, konterte er mit der Aussage, wonach "alle Teile der Seite aus anderen Seiten zusammengestellt" seien. Diese Originale würden von den Staatsanwaltschaften bislang nicht verfolgt, so der Theater-Provokateur.


Neue Zürcher Zeitung, 28.06.02

Der Anti-Wahlkämpfer
Schlingensief attackiert die deutsche FDP

Dass Satire alles dürfe, gehört seit Tucholsky zur libertären Auffassung von Kunstfreiheit. Auch die deutsche Staatsanwaltschaft hat sich diese Sicht mittlerweile weitgehend zu eigen gemacht. Als darum am Montag der Provokationsspezialist Christoph Schlingensief vor der Firma von Jürgen Möllemann in Düsseldorf auftauchte, um dort mit ausgesuchtem Aberwitz die antiisraelischen Äusserungen des FDP-Politikers zu karikieren, blieb die Aktion ungeahndet. Mehrere tausend Patronenhülsen hatte Schlingensief im Vorgarten des von ihm als "Waffenfirma" bezeichneten Unternehmens ausgestreut, kiloweise Federn verteilt (stellvertretend für das angekündigte Teeren und Federn des Hausherrn), faule Fische geworfen ("ein altes Hexenritual - auf Beschmutzung folgt Abwehr") und eine mit dem Konterfei Ariel Sharons versehene Strohpuppe sowie die israelische Flagge angezündet, wobei er freilich Möllemann als Brandstifter verstanden wissen wollte. Die örtliche Staatsanwaltschaft bemühte anschliessend das hohe Gut der Meinungsfreiheit, das solches Tun decke, und lehnte es ab, aus eigenem Antrieb tätig zu werden.

Nun mag zwar Satire alles dürfen, nicht alles jedoch lässt Justitia als Satire durchgehen. Es bleibt ein feiner, oft nur diffuser Unterschied, welcher nach Massgabe des Rechts die Kunst vom Straftatbestand trennt - oder, sagen wir: trennen soll. Und so sieht sich Schlingensief, den die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft ungestraft zündeln und faule Heringe werfen liess, andernorts wegen zweier mutmasslicher Delikte doch noch strafrechtlichen Ermittlungen ausgesetzt: wegen der Worte "Tötet Möllemann", die er als Gast des Festivals "Theater der Welt" in Duisburg von der Bühne herab gerufen haben soll, und wegen der Verwendung von Nazi-Symbolen und Nazi-Marschmusik auf seiner Website "www.aktion18.de". 18 Prozent Wählerstimmen hofft die FDP bei den nächsten Bundestagswahlen einzuheimsen, und Schlingensief meint, dies Ziel solle mit antisemitischer Propaganda erzielt werden. Entsprechend ist seine Website gebaut, als wilde Farce, die vorgibt, mit populistischen Sprüchen und antijüdischen Ressentiments für die FDP Wahlkampf zu treiben.

Dass das Ganze nicht FDP-freundlich ist, ist eindeutig, und dass rechtsradikales Gedankengut attackiert statt affirmiert werden soll, dürfte jeder Staatsanwalt erkennen. Aber erst einmal sind Nachforschungen wegen des "Gebrauchs von Symbolen verfassungsfeindlicher Organisationen" eingeleitet, und Schlingensief muss sich gegen den Verdacht auf Volksverhetzung verteidigen. Übrigens hat er das mit Jürgen Möllemann gemein. Ermittlungen wegen möglicher Volksverhetzung gegen den Politiker hat die Berliner Staatsanwaltschaft just in dem Moment eingestellt, da sie gegen Schlingensief eröffnet wurden. Auch Justitia kann satirisch sein.

Joachim Güntner


Neue Frankfurter Presse, 27.06.02

Berliner Volksbühne: Möllemann-Angriff auf die Freiheit der Kunst

Berlin/Düsseldorf (dpa) Die von Frank Castorf geleitete Berliner Volksbühne hat dem stellvertretenden FDP-Bundesvorsitzenden Jürgen Möllemann einen Angriff auf die Freiheit der Kunst vorgeworfen. Mit seinen Attacken und Klageandrohungen gegen die jüngste Theaterprovokation des an der Volksbühne beheimateten Regisseurs Christoph Schlingensief beim Festival "Theater der Welt" in Bonn, Köln, Düsseldorf und Duisburg versuche Möllemann, ein experimentelles Theaterstück, das bereits vor Monaten seine Erstaufführung gehabt habe, und ein Happening zu kriminalisieren, heißt es in einer Presseerklärung vom Donnerstag.

Ein Sprecher Möllemanns sagte am Abend, der FDP-Politiker lege weiterhin Wert auf die Feststellung, dass die Staatsanwaltschaft wegen eines Tötungsaufrufs und nicht wegen Bagatellen ermittele. Möllemann klage nicht gegen die Theaterprovokation, sagte der Sprecher. Es handele sich vielmehr um ein Offizialdelikt, das automatisch von der Staatsanwaltschaft verfolgt werde.

Damit verwies Möllemann auf die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft, die gegen Schlingensief wegen des Verdachts der Volksverhetzung und anderer möglicher Straftaten ermittelt. Bei dem Internet-Auftritt von Schlingensiefs Möllemann-kritischer, so genannter "Aktion 18" habe sich der Anfangsverdacht auf Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organe erhärtet, hatte der Sprecher der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft, Johannes Mocken, am Dienstag erklärt. Der Internet-Auftritt, auf der der Regisseur unter anderem dazu aufgefordert hatte, "Werden Sie Selbstmordattentäter", sei eine "absolute Unverschämtheit", sagte Mocken. Auf Grund des Erscheinungsortes der Website an Schlingensiefs Wohnort Berlin, sei die dortige Staatsanwaltschaft zuständig.

Auch die Staatsanwaltschaft Duisburg hat Vorermittlungen wegen des Verdachts möglicher Straftaten eingeleitet. Die Polizei sei gebeten worden, ihre Erkenntnisse über einen Schlingensiefschen Theaterabend vom vergangenen Sonntag mitzuteilen, hieß es am Dienstag. Im Theater der Ruhrgebietsstadt hatte der Regisseur bei einer Darbietung der "Aktion 18" auf einem Foto des Politikers herumgetrampelt, diesem mit einer Bohrmaschine zugesetzt und "Tötet Möllemann" gerufen. Damit habe er zu einer Straftat aufgerufen, sagte Möllemann. Die verfassungsrechtliche Grenze der Kunstfreiheit sei weit überschritten.

Laut Schlingensief ist mittlerweile der Druck auf das Theater-Festival "immens gestiegen", führende FDP-Politiker forderten den Abbruch. "Der grüne Kultusminister Michael Vesper übt massiven Druck aus, obwohl er mich vor Festivalbeginn als wichtigen Motor begrüßt hat", sagte Schlingensief am Donnerstag der dpa.

Diese Reaktionen zeigten, dass Kunst im öffentlichen Raum noch Wirkung erzielen könne. "Das Aufgebot an Verfassungsschützern und Zivilstreifen ist alleine schon parktechnisch ein Problem. Hier ist mehr los als im damals belächelten Österreich." Er werde sein Projekt "Aktion 18" bis zur Bundestagswahl fortsetzen, kündigte Schlingensief an. Einer Auseinandersetzung vor Gericht sehe er gelassen entgegen.


Jungle World Nr. 20/2002, 8. Mai 2002

Druck gegen Gewalt

Statt über die gesellschaftlichen Ursachen des Amoklaufs in Erfurt zu sprechen, überschlagen sich die Politiker mit Forderungen nach Gesetzesverschärfungen. von thies marsen
Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings soviel wie möglich in die Menge zu schießen. Wer nicht wenigstens einmal im Leben Lust gehabt hat, auf diese Weise mit dem derzeit bestehenden elenden Prinzip der Erniedrigung und Verdummung aufzuräumen, der gehört eindeutig selbst in diese Menge und hat den Wanst ständig in Schusshöhe.«

1929 schrieb der Surrealist André Breton diese Zeilen. Nicht, weil er damit zum Massenmord aufrufen wollte, sondern weil er, der als Sanitätsoffizier im Ersten Weltkrieg gedient hatte, mit eigenen Augen gesehen hatte, wie die herrschenden Verhältnisse Massenmord produzierten, wie eine Gesellschaft, die vorgeblich auf intellektueller Vernunft und wissenschaftlichem Fortschrift aufgebaut war, selbst Massaker anrichtete und stetig neues »Menschenmaterial« für diese Massaker hervorbrachte.

An den Verhältnissen hat sich bis heute nicht wirklich etwas geändert. Nach dem Ende des real existierenden Sozialismus hat sich die Situation in Deutschland seit 1990 deutlich verschärft. Krieg ist wieder ein legitimes Mittel der Außenpolitik geworden, und im Inneren wird die Massenarbeitslosigkeit mit dem Abbau der sozialen Sicherungssysteme sowie dem Ausbau des Polizeistaates beantwortet. Und während es früher noch die Hoffnung gab, dass eine bessere Welt vielleicht doch irgendwann einmal kommen werde, ist diese Aussicht längst dahin. Übrig geblieben ist die ach so freie Marktwirtschaft, deren durchaus verlockender Leitspruch lautet: »Wenn du willst, kannst du es schaffen.« Nur wird der zweite Teil dieses Satzes gerne vergessen: »Und wenn du es nicht schaffst, bist du eben selber schuld.«

Nicht mehr zur willigen Masse gehören, mit der permanenten Demütigung aufräumen, nicht mehr »den Wanst in Schusshöhe tragen« - Robert Steinhäuser, der Amokschütze von Erfurt, hat höchstwahrscheinlich nie André Breton gelesen. Und natürlich ist seine Tat weder revolutionär noch muss man dafür Verständnis oder gar Sympathie aufbringen. Aber ist sie deshalb vollkommen unverständlich?

Der gesellschaftlich akzeptierte Weg, einmal jemand zu werden, nach oben zu kommen, war Steinhäuser seit seinem Rausschmiss aus der Schule versperrt. Also wählte er einen anderen Weg, der Welt im Gedächtnis zu bleiben, indem er für eine kurze Zeit alle Konventionen über Bord warf, sich über alle gesellschaftlichen Regeln hinwegsetzte.

»Eine Gesellschaft, in der so viel Aggressivität vorhanden ist, in der Druck auf die Schüler ausgeübt wird, in der der Leistungsgedanke überhand nimmt, in der empfinden manche Schülerinnen und Schüler Schule als Kampf oder Bedrohung«, hat auch Innenminister Otto Schily angesichts der Tat von Erfurt festgestellt. In eigener Sache hat Schily freilich vorgesorgt und seine Kinder auf die Waldorfschule geschickt, ins Privatschulreservat für Besserverdienende. Ansonsten ist ein Innenminister bekanntlich vor allem dazu da, selbst Druck zu erzeugen.

Denn solange Verhältnisse, in denen jeder entsprechend seinen Möglichkeiten und Bedürfnissen leben kann, weiter entfernt sind denn je, kann sich die Gesellschaft gegen ihre eigenen Auswüchse nur durch Repression verteidigen. Kein Wunder also, dass sich nach dem Amoklauf in der vergangenen Woche die Politiker mit Forderungen nach Gesetzesverschärfungen überschlugen, von der Videoüberwachung in den Schulen bis hin zum Heraufsetzen der Volljährigkeit auf 21 Jahre. Schließlich ist auch noch Wahlkampf. Und weil die Gesellschaft nicht dafür verantwortlich sein kann, dass an ihr ab und an mal jemand verrückt wird, sucht man sich andere Schuldige: Videospiele, Fernsehen oder das Internet.

Bundeskanzler Gerhard Schröder und der Kanzlerkandidat der Union, Edmund Stoiber, hielten sich indes vornehm zurück und schickten lieber ihre Scharfmacher vor. Den Anfang machte Bayerns Innenminister Günther Beckstein (CSU), den Stoiber im Falle eines Wahlsieges bei der Bundestagswahl zum Nachfolger Otto Schilys machen will. Beckstein warf der Bundesregierung vor, »in skandalöser Weise untätig gewesen zu sein«, weil bislang kein Gesetz zum Verbot gewaltverherrlichender Video- und Computerspiele verabschiedet worden sei. Schily konterte prompt und warf Beckstein vor, ein entsprechendes Gesetz bislang blockiert zu haben.

Grundsätzlich aber ist man sich einig. Auch Schily will künftig »mehr Durchsuchungen, Razzien und Beschlagnahmungen«. Nicht nur Verbreitung und Verkauf von »Gewaltvideos« sollen strafbar sein, sondern bereits deren Herstellung.

Einig sind sich Opposition und Regierung auch darin, den privaten Waffenbesitz einzuschränken. Erst ab 21 (Schily) bzw. ab 25 Jahren (Beckstein) soll man in Zukunft großkalibrige Waffen kaufen dürfen. Das ist grundsätzlich nicht verkehrt, denn dass zwischen der Verbreitung und Verfügbarkeit von Waffen und ihrer Anwendung ein direkter Zusammenhang besteht, liegt auf der Hand. Warum aber sollen nur Jugendliche keine mehr bekommen? Kaum ein Monat vergeht, in dem nicht ein frustrierter Ehemann, der seinen Job verliert und die nächste Rate für die Doppelhaushälfte nicht mehr bezahlen kann, seine Familie abschlachtet und sich anschließend selbst richtet.

Auch in den Tausenden deutschen Schützenvereinen - in zweien davon lernte auch der Todesschütze von Erfurt sein Handwerk - wird man in Zukunft weiterschießen dürfen: 2,3 Millionen registrierte Waffenbesitzer sind schlicht eine nicht zu vernachlässigende Anzahl von Wählern. Beckstein warf sich besonders für die Schützen in die Bresche: »Seriöse Vereine kanalisieren das Bedürfnis Jugendlicher nach dem Umgang mit einer Waffe und filtern Ungeeignete eher heraus«, sagte er der Süddeutschen Zeitung.

Und er verteidigte auch gleich noch das neue Waffengesetz, das der Bundestag just am Tag des Massakers verabschiedet hatte und welches zulässt, dass bereits Zehnjährige an der Waffe ausgebildet werden dürfen: »Die lernen in den Vereinen von klein auf, dass nie auf Menschen gezielt werden darf und sind der Vereinsdisziplin unterworfen.«

Auch Beckstein ist der Vereinsdisziplin unterworfen, und zwar der der CSU, deshalb muss er so etwas sagen. Schließlich ist sein Chef Stoiber selbst Ehrenleutnant der Gebirgsschützen seines Heimatortes Wolfratshausen. Die bayerischen Gebirgsschützen wiederum sind dafür bekannt, dass sie im Zweifelsfall durchaus wissen, worauf sie zielen müssen.

Aus ihren Reihen rekrutierten sich die Freikorps, die 1919 die Münchner Räterepublik niedergeschlagen haben. Als sich die Gebirgsschützen am vergangenen Wochenende zu ihrem alljährlichen Treffen versammelten, kniff Stoiber allerdings angesichts der aktuellen Diskussion und verzichtete auf seinen sonst üblichen Auftritt zwischen Gamsbärten und Vorderladern. Die Schützen werden trotzdem wissen, dass sie sich auf Stoiber verlassen können. Und umgekehrt.


Welches Buch sollen wir öffentlich verbrennen?